Das kopfstehende Szigetvár-Provisorium und seine Gefährten
Die ungarische Briefmarkenausgabe 1867 weist eine seltene Besonderheit auf.
Es sind die Briefmarken zu 5 kr, mit ausschließlich schwarzem Stempel SZIGETHVÁR, die mit einer gerade noch bemerkbaren unregelmäßigen Zähnung und minimal abweichender Bildgröße den Eindruck einer Linienzähnung vermitteln. Die philatelistische Fachsprache spricht vom "Szigetvár-Provisorium". Ungeachtet dessen, dass diese Marken in den Jahren 1869 und 1870 entstanden, blieben sie 80 Jahre lang unentdeckt. Erst Anfang der 50er-Jahre stellten die Philatelisten ihre Existenz fest. Wir wissen heute nicht mehr, welches der 29 bis jetzt bekannten Exemplare dieses Phänomen verriet. Der "Produzent" hatte alles daran gesetzt, um ein Erkennen seiner Fälschung zu verhindern.
Dies hätte doch zumindest den Verlust seiner Arbeitsstelle bedeutet. Die Tatsache, dass dies durch einen so langen Zeitraum hindurch gelungen ist, macht diese Art der Fälschung für die Postgeschichte besonders interessant.
Was hat sich in Wirklichkeit zugetragen?
1861 und 1866 wurde in Postverordnungen die Verwendung von aus Briefumschlägen ausgeschnittenen Wertzeichen untersagt, in solchen Fällen hatte also eine Nachtaxierung zu erfolgen. Trotzdem haben ab und zu Ganzsachenausschnitte, mögen sie als Notlösungen oder als philatelistische Versuche entstanden sein, von der Post unbemerkt zur Frankierung gedient.
Aber was konnte jemand machen, dem zahlreiche ungebrauchte, nach Briefmarken aussehende Ganzsachenausschnitte in die Hände gerieten und er diese auf eine sichere Weise benützen wollte?
(Die Herkunft der Ausschnitte ist noch ungeklärt, aber nach einer Hypothese, die auf alle Fragen gleichzeitig Antwort gibt, konnte ein in der Wiener Staatsdruckerei bis 1867 arbeitender Maschinenmeister Proben und Ausschuss der damals gerade von ihm gedruckten 5 kr-Briefkuverts, ohne Aufsehen zu erregen, sammeln und zwei Jahre später auf eine eigene Art nutzen. Das kann die Erklärung dafür sein, warum nur 5 kr-Ausschnitte existieren und mit den Erschöpfen des Vorrates auch die Fälschungen aufhörten.)
Die Antwort auf die vorhergehende Frage: Er hat eine vereinfachte Zähnungsmaschine gebaut!
Dies zahlte sich in hohem Maße für ihn aus, da er – statistisch berechnet – im Zeitraum von fast einem Jahr ca. 2.000 Ausschnitte (10 Stk. pro Tag) mit einer Zähnung versah und verbrauchte. Das brachte ihm 100 Forint Mehrverdienst, was damals ein Viertel des Jahresgehaltes eines Postbeamten war. Darüber, wer dieser Jemand war, haben wir noch unbewiesene Annahmen, aber der Zeitraum, der Ort sowie die Art der Verwendung grenzen den in Frage kommenden Kreis sehr ein.
Zu dieser Zeit war Adolf Hönig Postmeister in Szigetvár. Der aktuelle Postmeister-Stempel war seit 1852(57) in Gebrauch, kurzzeitig zwischen Oktober 1867 und September 1869 auch in Blau, aber vorher und danach nur in Schwarz. Daher kennen wir kein Provisorium mit blauem Stempel. Der Stempel zeigte nach österreichischer Vorschrift Tag und Monat, in dieser Reihenfolge, mit der Monatsbezeichnung in römischen Ziffern. Deshalb kann ein Verwendungsjahr nur durch entsprechende Angaben auf den erhaltenen Briefen festgestellt werden. Die vier erhaltenen Briefe sind vom 06.12.1869, 04.01.1870, 19.07.1870 und 16.08.1870. Auf einem Ausschnitt (22.III.) ist noch die Jahreszahl 70 zu sehen.
Die bisher von mir registrierten Exemplare weisen die Zahlen aller Monate des Jahres auf. Doch welches das erste und welches das letzte von diesen ist, kann nur aus einem winzigen aber trotzdem auffälligen Herstellungsunterschied erschlossen werden. Die Charakteristik der Zähnung wurde "zusammengedrückt". Weil der Fälscher am Anfang auf peinliche Genauigkeit bedacht war, zähnte er die Ausschnitte eher um ½ mm schmäler, damit die Zähne auf allen 4 Seiten zusammenpassen und dadurch das Zähnungsbild dem der originären Bogenzähnung gleicht.
Diese Präzision ist nur auf den "Marken" vom 24.X. und 29.XI. zu bemerken. Daraus kann geschlossen werden, dass diese die frühesten bekannten Exemplare sind. Eine Untersuchung der Korrespondenz aus der entsprechenden Zeit legt die Annahme nahe, dass in Szigetvár zwischen 24.10.1869 und 25.09.1870 wahrscheinlich nur Provisorien verwendet wurden. Die wenigen uns bekannten Ausnahmen entstanden aus dem Bedarf nach Briefmarken anderer Nennwerte als 5 kr. (Ex offo, 2 kr und Postkarte) oder waren nicht beim Postamt gekaufte Marken zu 5 kr.
Wieso kennen wir keine Reko-, Mehrfach- oder Farbfrankatur etc.? Die Antwort auf diese Frage ist einfach … wir kennen solche!
Zwei Ausschnitte sind gute Beispiele dafür! Das erste Beispiel ist eine Attraktion im Budapester Briefmarkenmuseum (die Besucher können diese gemeinsam mit dem bekannten 3 kr-Fehldruck betrachten), wo eine 10 kr-Marke als Farbfrankatur mit einem Provisorium (22.V.) wahrscheinlich auf der Vorderseite eines Briefes war. Bemerkenswert ist, dass die beiden Marken tête-bêche geklebt sind. Sollte dies vom Provisorium ablenken?
Die gleiche Klebeart weist der Ausschnitt mit den beiden Provisorien (22.III.) auf. Es ist dies die bisher einzige Frankatur mit zwei Provisorien. Der Ausschnitt stammt von der Rückseite eines Umschlages. Wahrscheinlich war es die Rekogebühr von 10 kr samt dem Ankunftsstempel, von dem nur die Jahreszahl 70 sichtbar ist. Neben den vier Briefen kennen wir noch insgesamt fünf Ausschnitte. Die beiden ersten Exemplare sind die frühesten. Die Präzision der Zähnung ist gut sichtbar. Am dritten ist das Signum von E.Müller interessant, vielleicht hat gerade dieses Exemplar anfangs der 50er-Jahre die Existenz der Provisorien verraten.
(E.Müller kannte sicher mehrere Exemplare, da er als erster diese katalogisierte, aber das ist das einzige von ihm signierte Stück.)
Diese "Auszähnung" ist die extremste, sie ist fast ½ mm breiter als eine normale Marke und 1 mm breiter als die oben erwähnten, sorgfältig hergestellten Marken. An losen Provisorien habe ich bisher 19 Stück registriert. Jenes vom 18.VIII. ist durch das nicht ausgestanzte letzte Zahnloch rechts oben interessant. Eile oder Sorglosigkeit, oder beides?
Quelle: Die Briefmarke Nr. 5/2007
Autor: DI Attila Bándi